Text: Kristin Theresa Drechsler

Patti Smith ist eine Urgewalt. Wenn die Lyrikerin, Performerin, Fotografin und Künstlerin heute – mit Mitte 70 – ihre Songs auf die Bühne bringt, dann kommt es einem so vor als wären ihr diese gerade frisch aus den Eingeweiden emporgestiegen. Die Stimme bebt, zittert, jauchzt und grölt. Ihr Körper wirkt zeitweise wie getrieben. Noch immer rebelliert sie gegen den Status Quo. Mit jeder Faser ihres Seins. Mit jedem ihrer Worte. Und es ist eine Rebellion, die sogar richtig viel Freude zu machen scheint.

Nicht nur die Tatsache, dass sie nach einer so langen Karriere und einem sieben Dekaden langen Leben noch über diese Energie verfügt, ist bemerkenswert. Es ist auch ihr Look. Denn Frauen ab 50 sollten sich am besten direkt einbalsamieren. Und wenn sie das nicht tun, dann bitte ihren körperlichen Verfall nicht auch noch derart zelebrieren. Verfall? Nun, die skandalösen grauen struppigen Haare sind natürlich gemeint. Aber genug davon.

Patricia Lee Smith kommt am 30. Dezember 1946 in Chicago, Illinois zur Welt. Aus armen Verhältnissen stammend, lernt sie früh, sich selbst durchzuschlagen und beginnt im Alter von 16 Jahren in einer Fabrik zu arbeiten. Ihre Jugend verbringt sie zeitweise in London und Paris. Hier ist es noch nicht die Musik, sondern die Poesie, in der sie ihre eigene Stimme findet. Schon als Kind entdeckt sie ihre Liebe zu Dichtern wie Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire: „Rimbaud besaß den Schlüssel zu einer mystischen Sprache, die ich verschlang, ohne sie ganz enträtseln zu können. Meine unerwartete Liebe zu ihm war so real für mich wie alles, was ich tatsächlich erlebt hatte. […] Nur für ihn schrieb und träumte ich“, schreibt sie in ihrem Buch „Just Kids“ (2010).

1967 zieht die Poetin nach New York und beginnt erste eigene Gedichte zu veröffentlichen. Dort lernt sie auch den Fotografen Robert Mapplethorpe kennen, der für sie ein wichtiger Wegbegleiter wird. Ihr Künstlerfreund war verantwortlich für das ikonische Cover ihres Debütalbums „Horses“, das 1975 erscheint. Es beginnt mit dem legendären Satz: „Jesus died for somebody‘s sins – but not mine“ – und ist das musikalisch-lyrische Befreiungsfest einer Ausnahmeperformerin. Sie singt sich in Rage. In Ekstase. Worte und Musik versetzen sich gegenseitig in Schwingung. Alles pulsiert. Und strotzt vor einem Geist, der sich immer wieder selbst übersteigen will. Denn darum ging es ihr: Grenzen überwinden. Vor allem die inneren. Und zwar immer wieder. In einem Interview sagte sie einmal: „Break through one door isn’t enough, a million doors isn’t enough, you have to go beyond and beyond.”

Nur ein Jahr nach „Horses“ erscheint das Folgealbum „Radio Ethiopia“. Und kurz darauf gelingt ihr 1978 mit „Easter“ und dem Song „Because The Night“ der weltweite Durchbruch. Es folgen dann einige „ruhigere“ Jahre – zumindest was Smiths Musik betrifft. Sie bringt zwei Kinder zur Welt, lebt zurückgezogen mit ihrem Mann, Fred Smith, Gitarrist der Band MC5, der 1994 im Alter von 46 Jahren stirbt. Kurz darauf verliert sie auch ihren Bruder, zu dem sie ein sehr enges Verhältnis hatte. Finanziell sieht es nicht gut aus und Smith beschließt, wieder live zu performen.

Seitdem sind acht weitere Alben entstanden. Noch immer tourt sie und macht dem ihr verliehenen Titel „Godmother of Punk“ alle Ehre. Als Musikerin versteht sich Patti Smith in erster Linie jedoch nicht. An erster Stelle stand und steht für sie das Schreiben, das für sie ein existenzieller Prüfstein ist: „Warum schreiben wir? […] Weil wir nicht nur dahinleben können“, heißt es in ihrem Buch „Hingabe“ von 2019.

Nur dahingelebt hat Patti Smith wahrlich nicht. Dieses Jahr am 30. Dezember wird sie 76 Jahre alt. Aber was heißt das eigentlich?