Text: Marius Maagard
Während andere Kollegen der zutiefst männlichen Punk-Szene der 70er-Jahre damit beschäftigt waren, die Queen of England zu beleidigen, sich Sicherheitsnadeln ins Ohr zu stecken, in Fernseh-Talkshows mit Schimpfwörtern um sich zu werfen oder auf andere Art und Weise das Establishment zu schocken, praktizierte Siouxsie Sioux etwas viel Mutigeres: Verletzlichkeit. Das macht die Songs ihrer Band Siouxsie And The Banshees (und auch die ihres anderen Projekts The Creatures) nicht weniger intensiv als die von Sex Pistols, The Clash und Konsorten. Im Gegenteil: Mit einer Stimme, die selbst das dichteste Post-Punk-Dickicht durchschneiden kann, geht sie mit ihrem Publikum auf Konfrontationskurs.

Anstatt dieses auf Abstand zu halten, zieht sie es tief in ihre Welt hinein. Ihre Musik war und ist unabdingbar persönlich – was im pöbelig politischen Punk-Rock durchaus etwas Besonderes darstellte. Einer der großen kreativen Motoren von Siouxsie Sioux ist der Schmerz. Der wurde ihr schließlich in die Wiege gelegt. Die 1957 als Susan Janet Ballion geborene Künstlerin wuchs als Tochter eines schweren Alkoholikers auf, in einem südöstlichen Vorort Londons, den sie zu verachten lernte.

Später beschreibt sie ein allgegenwärtiges Misstrauen gegenüber Erwachsenen. Als sie sich im Alter von 14 Jahren im Krankenhaus von einer potentiell tödlichen Darmentzündung erholt, läuft Top Of The Pops im Fernseher. Dort schallt ihr Glam-Rock entgegen, David Bowie, Marc Bolan, Roxy Music. Ballion erahnt, dass eine andere Welt möglich ist. Doch die muss sie erst einmal selbst erfinden. Fünf Jahre später, im September 1976 steht Susan Janet Ballion zum ersten Mal auf einer Bühne, unter einem neuen Namen. Gemeinsam mit ihrem späteren Band-Bassisten Steven Severin improvisiert sie beim legendären 100 Club Punk Special Festival ein 16-minütiges Vater Unser. Instrumente können beide nicht so richtig spielen. Aber das ist egal. Viv Albertine von The Slits redet später über diesen Abend als den Moment, der sie selbst zum Musikmachen inspirierte – und von Ballions „Erscheinen als vollständig entwickelte Gestalt“. Susan Ballion war erst 19 Jahre alt – und sie war von diesem Moment an 100 Prozent Siouxsie Sioux. Schmerz und Gewalt sind in ihren Songs omnipräsent.

Die in der Indie-Disko gerne als Hymne missverstandene erste Single „Hong Kong Garden“ ist eine Aufarbeitung eines rassistischen Überfalls auf ein chinesisches Restaurant. Die Alben ihrer Band Siouxsie And The Banshees sind durchzogen von Liedern über Krankheit und Tod. Gepaart mit einem Faible für das Okkulte wurde sie zu einer frühen Ikone der Goth-Bewegung. Nur fühlt sich das alles bei ihr nicht wie eine Stilisierung an an. Die Dunkelheit in ihren Songs ist kompromisslos real. Und unglaublich kraftvoll. Susan Janet Ballion verwandelt menschliche Abgründe in einige der stärksten Songs ihrer Generation. 2006, über drei Jahrzehnte nach ihrer Wiedergeburt als Siouxsie Sioux, sagt sie in einem Interview, dass genau das die Leistung ist, auf die sie heute am meisten stolz ist. „Ich musste mich neu erfinden, oder ertrinken. Handeln, oder sterben.“