
Text: Marius Magaard
Betty Davis
In Zeiten von betont lüsternen Superstars wie The Weekend oder Cardi B kann man durchaus für selbstverständlich nehmen, wie offen in der Pop-Musik mit Sexualität umgegangen wird. Das war nicht immer so, wie schon in den 60er-Jahren die damals riesigen Empörungen über extrem harmlose Beatles-Songs zeigten. Selbst deutlich sinnlichere Stücke, etwa von The Doors, mussten noch mit Chiffren arbeiten („Come on baby, light my fire“ etc.), um irgendwie im von konservativen Moralvorstellungen kontrollierten Mainstream-Radio eine Chance zu haben. Doch was ist zwischen „I Want To Hold Your Hand“ und „WAP“ passiert? Die Antwort heißt: Betty Davis.
Die Musikerin, Sängerin und Songwriterin wird am 26. Juli 1944 als Betty Gray Mabry geboren und wächst mit ihrer Familie in Pennsylvania auf. Als sie ihren Vater den Hüftschwung von Elvis Presley imitieren sieht, beschließt sie, Entertainerin zu werden. Im Alter von 16 Jahren zieht sie nach New York. Eigentlich für ein Studium am Fashion Institute Of Technology, doch sie findet schnell Arbeit als Model. Bevor sie selbst zur Schlüsselfigur der modernen Pop-Musik wird, lernt sie einige andere kennen: Sly Stone und Jimi Hendrix zählen zu ihren engen Freunden. Parallel beginnt sie ihre musikalische Karriere, noch unter dem Namen Betty Mabry, mit mäßigem Umsatz. Als Songwriterin hat sie mehr Erfolg, das von ihr geschriebene „Uptown (To Harlem)“ wird für das Psych-Soul-Quintett The Chambers Brothers ein Hit. 1968 heiratet sie Jazz-Revolutionär Miles Davis. Seinen Nachnamen behielt sie bis zu ihrem Tod im Februar 2022, obwohl das Paar sich bereits ein Jahr später wieder scheiden ließ. Ihr turbulentes Ehejahr war trotz seiner Kürze für den Trompeter extrem einflussreich: Es war Betty Davis, die ihm den modernen Psychedelic-Rock von Jimi Hendrix zeigte – und damit mindestens sein 1970er Jazz-Fusion-Meisterwerk „Bitches Brew“ ermöglichte.
Im kommenden Jahrzehnt war es Zeit für Betty Davis’ eigene Meisterwerke. Zu Beginn der Dekade zieht sie nach Los Angeles. Eigentlich will sie dort mit Carlos Santana an ihrem Debütalbum arbeiten, die Wahl für die Backingband fällt letzten Endes aber auf Teile von Sly & The Family Stone. Das Ergebnis ist „Betty Davis“ (1973), eine LP, die verzerrte Psych-Rock-Gitarren mit genussvollen Funk-Grooves zusammenbringt. Im Zentrum dieser schier unverschämten Tightness steht Davis’ Gesang, die mit übermenschlicher Präsenz und kontrolliertem Stimmen-Überschlagen auf maximalen Konfrontationskurs geht. Ihre Texte sind explizit körperlich, mit einem gesunden Anteil Aggression. Songs wie „If I’m In Luck I Might Get Picked Up“ sind mehr Befehle als Liebeslieder. Und dann ist da der „Anti Love Song“, in dem sie messerscharf attestiert, was für ein jämmerliches kleines Würstchen ihr ehemaliger Liebhaber eigentlich ist.
Dieses furchtlose Selbstbewusstsein zeigt sich auch auf den beiden weiteren Soloalben „They Say I’m Different“ und „Nasty Gal“ (jedes von ihnen ein unantastbarer Funk-Rock-Klassiker) und auch in ihren ebenso sinnlich aggressiven Live-Konzerten. Die überwiegend Männer-dominierte mediale Berichterstattung kommt damit nicht so richtig klar: Viele zeitgenössische Rezensionen von Journalisten decken einen breiten Teil des Misogynie-Spektrums ab, zwischen prüder Entrüstung und notgeiler Objektifizierung. Viele Radiostationen weigern sich, diese schamlose Musik zu spielen. Auch bei Konzerten kommt es in den USA zu Boykotten. Davon scheint Betty Davis ab einem gewissen Punkt genug gehabt zu haben – und wählt einen auf andere Art und Weise radikalen Weg: 1976, ein Jahr nach „Nasty Gal“, zieht sie sich nach Japan zurück, um dort mit schweigenden Mönchen zu leben. 1980 stirbt ihr Vater und Betty Davis kehrt zu ihrer Familie nach Pennsylvania zurück. Sie wird nie wieder ein Konzert spielen.
Davis mag von da an ein zurückgezogenes Leben geführt haben – der Einfluss ihrer Platten wuchs jedoch ungemein. Ihre LPs wurden zu Kult-Hits, die ganze Generationen von Künstler*innen inspirierten, von 90er-Jahre Stars wie Erykah Badu oder D’Angelo über zeitgenössiche Soul-Revolutionär*innen wie Jamila Woods oder Janelle Monáe bis zu Pop-Gigant*innen wie Beyoncé.
Wie es ihr einstiger Ehemann Miles Davis in seiner Autobiografie treffend zusammenfasst: „Wenn Betty heute singen würde, dann wäre sie so wie Madonna, oder Prince. Sie war der Anfang von all dem. Sie war ihrer Zeit voraus.“