
Text: Marius Magaard
Eine seltsame Frucht baumelt tief vom Pappelbaum. Der Duft von Magnolien liegt in der Luft. Doch das süßlich, frische Aroma der Staatsblume von Mississippi ist nicht das einzige. Hier wird ganz bestimmt keine malerische Landschaft beschrieben. Denn plötzlich ist da der Geruch von verbranntem Fleisch. Und was ist diese sonderbare, bittere Ernte, die dem Lied „Strange Fruit“ seinen Namen gibt? Es sind die in der Sommerbrise hängenden Körper von gelynchten Schwarzen.
Billie Holiday sang dieses Lied zum ersten Mal im Jahr 1939. Und auch über acht Jahrzehnte später, ist es kaum auszuhalten. Die trügerische Idylle des ersten Vers („Southern trees bear a strange fruit“) wird direkt im zweiten vergiftet, in dem der Baum als blutverschmiert enthüllt wird. Nicht nur an den Blättern, sondern vor alledem an den Wurzeln. Die Grande Dame des Jazz singt von hervortretenden Augen und verzerrten Mündern. Von Krähen, die sich an dem toten Körpern laben. Eine „pastorale Szene des stolzen Südens“ wird das im Text später genannt. Eine Bitterkeit, die auch heute noch das Blut in in den Adern zum gefrieren bringt.
Wenn dieses Stück Musik schon im Jetzt so unerträglich ist, ist es kaum vorzustellen, wie „Strange Fruit“ im Jahr 1939 geklungen haben muss. In einer Zeit, in der die hier beschriebene rassistische Gewalt noch zum Alltag in den US-Südstaaten gehörte. Abel Meeropol, der jüdische Autor des Gedichts, das diesem Lied die Grundlage gab, hatte in seinem Leben noch nie einen Lynchmord gesehen. Billie Holiday auch nicht. Doch die 1917 geborene Afroamerikanerin, die den Song unsterblich machte, verstand das Gewicht dieser Worte. Sie widmete „Strange Fruit“ ihrem Vater, der zwei Jahre vorher starb, nachdem ihm ein texanisches Krankenhaus die Behandlung verweigerte. Aufgrund seiner Hautfarbe.
Auch kaum vorzustellen ist, wie dieser Song in ein Billie-Holiday-Konzert gepasst haben kann. Seit Beginn ihrer musikalischen Karriere 1929 in Harlem stilisierte sie sich als unglücklich Verliebte. Ihre Setlists bestanden zum Großteil aus Jazz-Balladen wie „Summertime“ oder „I’ve Got My Love To Keep Me Warm“. Das meisterhafte Vibrato ihrer Stimme war perfekt für diese Stimmung und versah die Lieder mit einer schier übermenschlichen Sehnsucht. Und dann, meist zum Abschluss des Abends, sang sie auf einmal von der schlimmstmöglichen Grausamkeit. Holiday unterstützte diesen Stimmungsbruch bewusst. Berichten zufolge ließ sie für „Strange Fruit“ das Licht des Konzertsaales löschen. Nur ein einzelner Scheinwerfer erleuchtete ihr Gesicht. Im Zuschauerraum sei es so leise gewesen, dass man eine Nadel hätte fallen hören können, erinnert sich eine Zuschauerin.
Dass solch ein Lied in den 30er-Jahren, in denen Rassismus noch im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig war, für Aufruhr sorgte, sollte selbstverständlich sein. Holidays damaliges Label Columbia Records befürchtete ein kommerzielles Desaster und lehnte den Song ab. Auch nach der Veröffentlichung auf der Plattenfirma Commodore Records wurde der Song nicht im Radio gespielt. Ein Hit wurde er trotzdem – und machte sie endgültig zum Star. Für Holiday war es erst der wahre Anfang, doch „Strange Fruit“ begleitete sie bis zum Ende. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1959 spielt sie ihn live. „Der Song erinnert mich daran, wie mein Vater starb, aber ich muss ihn immer weiter singen“, schrieb sie 1957 in ihrer Autobiografie „Lady Sings The Blues“. „Nicht nur weil das Publikum nach ihm verlangt, sondern auch, weil 20 Jahre nach seinem Tod in den Südstaaten immer noch das gemacht wird, was ihn getötet hat.“