Text: Diviam Hoffmann

„Some people think little girls should be seen and not heard. But I think: Oh Bondage Up Yours!“ Diese Sätze schreit sich 1977 Poly Styrene von der Seele. Danach zählt sie ihre Band mit fast überschlagender Stimme ein, ein Trommelwirbel und treibender Rhythmus setzt ein, kurz darauf eine heulende Gitarre und ein Saxofon, das die Punk-Expertin Vivien Goldman extrem passend als „hupend“ beschrieben hat. Nicht nur mit dem Einsatz des Blasinstruments (gespielt von der damals gerade mal 16-jährigen Laura Logic) hob sich Styrenes Band X-Ray Spex Ende der 70er von den anderen Bands aus dem Londoner Punk-Kessel ab. Auch Styrene mit ihrer Stimme und ihren sozialkritischen Texten war eine Ausnahmeerscheinung.

„Oh Bondage Up Yours!“, das ließe sich vielleicht so übersetzen: „Schiebt euch eure Fesseln doch sonstwo hin!“ In ihrem Text voller BDSM-Anspielungen („Bind me, tie me, chain me to the wall“) fordert sie nicht nur, die Fesseln des Patriarchats endlich einzureißen. Auf die Frage, wie sie auf ihren Text gekommen sei, antwortet die Musikerin 1977, dass sie auf einem Punk-Konzert zwei mit Handschellen aneinander gekettete Mädchen beobachtet hatte. „Es war ein modisches Statement. Aber durch diese Entscheidung, Ketten zu tragen, haben sie die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie gefesselt wir tatsächlich leben. Manche Leute stört das nicht, es gibt ihnen eine Ausrede nicht nachdenken zu müssen. Sie behaupten, wir leben in einem freien Land, aber das stimmt nicht.“

Poly Styrene wurde 1957 als Marianne Joan Elliott-Said geboren und war nicht nur eine der ersten Frauen auf der Bühne des Punk, sondern sehr wahrscheinlich die erste Schwarze Punk-Sängerin. Styrenes Mutter war Britin, ihr Vater kam aus Somali. „Identität ist die Krise, kannst du es nicht sehen?“, singt Poly Styrene in „Identity“ und ist damit Debatten aus diesem Jahrhundert um Lichtjahre voraus. Inspiration für den Song waren aber nicht nur ihre eigenen biografischen Erfahrungen, sondern auch der beschränkte Blick auf Identitäten der britischen Jugendkultur: Egal ob Punks, Hippies oder Rastas, erzählt Styrenes Tochter Celeste Bell im Buch von Vivien Goldman, „alle versuchten, über die Kleidung, die sie trugen oder die Musik, die sie hörten, ihre Identität zu behaupten. Alle wollten Individuen sein, aber am Ende waren sie genauso wie alle anderen in ihrer eigenen kleinen Gruppe.“

Ihren Künstlerinnennamen hat Poly Styrene im Telefonbuch gefunden, auf der Suche nach „something plastic“. „Künstlich und wegwerfbar sollen Popstars sein“, so Styrene, „also dachte ich, ich treibe das noch weiter.“ Polystyrol in auch in Deutschland ein weit verbreitetes Material, aber eins dieser Dinge, die man nur unter dem Namen kennt, den mal eine Firma ihrem Produkt gegeben hat: Styropor. Poly Styrene ist fasziniert von Neon und Künstlichkeit. In „The World Turned Day-Glo“ stellt sie sich eine Welt aus Neonfarben vor, fährt über Acrylstraßen an Kunstschneebergen vorbei und hört die Folienblätter an den Bäumen rauschen. Hinter diesem Spiel mit Materialität und (retro-)futuristischen Bildern steckt eine ziemlich frühe Reflexion von Künstlichkeit und ihren Auswirkungen der Konsumgesellschaft. Und der Rolle der Frau in dieser: „When I put on my make-up / The pretty little mask not me / That’s the way a girl should be / In a consumer society.“

X-Ray Spex gab es wie die meisten Punk-Bands nicht allzu lang. Direkt nach der Auflösung nahm Poly Styrene ihr erstes Soloalbum auf, auf dem sie beweist, dass die unkontrollierbare Energie ihrer Punk-Intonation nichts damit zu tun hat, dass sie nicht melodisch singen kann. 2011 erschien ihr letztes Album „Generation Indigo“, auf dem sie erstaunlich aktuelle Themen reflektiert, wie beispielsweise Online-Dating. Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung starb Styrene an Krebs. Sie wurde 53 Jahre alt.